Maltes Lesebuch
MALTES LESEBUCH
Guten Tag, mein "Lese- und Notizbuch" ist umgezogen. Ich habe es in die
modische Form eines Blogs gegossen:
Bonjour, mon "cahier des lectures et des notes" à déménagé.
Je l'ai transmis dans la forme modique d'un blog:
Goeiedag, mijn "lees- en notitieboek" is verhuisd. Ik heb het in de
modische vorm van een blog gegoten:
Hello, my "readings and notes" section has moved. I have put it into
the fashionable form of a blog:
www.woydt.be/blog/
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PRIVATHOME:
LESEBUCH:
SELBSTÜBERFORDERUNG
Selbstüberforderung
"Gespräch mit
dem Staatsanwalt, meinem Freund, über Stiller: - 'Die weitaus meisten Menschenleben
werden durch Selbstüberforderung vernichtet', sagt er und erklärt
es sich etwa folgendermaßen: 'Unser Bewußtsein hat sich im Laufe
einiger Jahrhunderte sehr verändert, unser Gefühlsleben sehr viel
weniger. ... Die meisten von uns haben so ein Paket mit fleischfarbenem Stoff,
nämlich Gefühle, die sie
von ihrem intellektuellen Niveau
aus nicht wahrhaben wollen.
Es gibt zwei Auswege, die
zu nichts führen; wir töten unsere primitiven und also unwürdigen
Gefühle ab, soweit möglich, auf die Gefahr hin, daß dadurch
das Gefühlsleben überhaupt abgetötet wird, oder wir geben unseren
unwürdigen Gefühlen einfach einen anderen Namen. Wir lügen sie
um, wir etikettieren sie nach dem Wunsch unseres Bewußtseins. Je wendiger
unser Bewußtsein, je belesener,
um so zahlreicher und um so nobler unsere Hintertürchen, um so geistvoller
die Selbstbelügung!
Man kann sich ein Leben
lang damit unterhalten, und zwar vortrefflich, nur kommt man damit nicht zum
Leben, sondern unweigerlich in die Selbstentfremdung. Beispielsweise können
wir uns den Mangel an Mut, einmal in die Knie zu gehen, unschwer als gute Haltung
auslegen, die Angst vor Selbstverwirklichung unschwer als Selbstlosigkeit und
so fort. Die meisten von uns wissen nur allzu gut, was sie in dieser oder jener
Situation empfinden dürften, oder haben selbst bei gutem Willen bereits
die allergrößte Mühe, herauszufinden, welcher Art ihre tatsächlich
vorhandenen Gefühle sind. Das ist ein übler Zustand. Sarkasmus allem
Gefühl gegenüber ist das klassische Symptom dafür ...
Zur Selbstüberforderung
gehört unweigerlich eine falsche Art von schlechtem Gewissen. Einer nimmt
es sich übel, kein Genie zu sein, ein anderer nimmt es sich übel,
trotz guter Erziehung kein Heiliger zu sein, und Stiller nahm es sich übel,
kein Spanienkämpfer zu sein. ...
Es ist merkwürdig,
was sich uns, sobald wir in der Selbstüberforderung uns damit in der Selbstentfremdung
sind, nicht alles als Gewissen anbietet. Die innere Stimme eines Pseudo-Ich,
das nicht duldet, daß ich es endlich aufgebe, daß ich mich selbst
erkenne, und es mit allen Listen der Eitelkeit,
nötigenfalls meine tödliche Selbstüberforderung zu fesseln. Wir
sehen wohl unsere Niederlagen, aber begreifen sie nicht als Signale, als Konsequenzen
eines verkehrten Strebens, eines Strebens weg von unserem Selbst. Merkwürdigerweise
ist ja die Richtung unsere Eitelkeit nicht, wie es zu sein scheint, eine Richtung
auf unser Selbst hin, sondern weg von unserem Selbst.' ...
'Ich sehe Stiller nicht
als Sonderfall', sagt mein Staatsanwalt, '... Viele erkennen sich selbst, nur
wenige kommen dazu, sich auch selbst anzunehmen. Wieviel Selbsterkenntnis erschöpft
sich darin, den anderen mit einer noch etwas präziseren und genaueren Beschreibung
unserer Schwächen zuvorzukommen, also in Koketterie!
Aber auch die echte Selbsterkenntnis, die eher stumm bleibt und sich wesentlich
nur im Verhalten unerläßlicher und mühsamer, aber keinesfalls
nur im Verhalten ausdrückt, genügt noch nicht, sie ist ein enrster,
zwar unerläßlicher und mühsamer, aber keinesfalls hinreichender
Schritt. Selbsterkenntnis als lebenslängliche Melancholie, als geistreicher
Umgang mit unseren früheren Resignationen ist sehr häufig, und Menschen
dieser Art sind für uns zuweilen die nettesten Tischgenossen; aber was
ist es für sie? Sie sind aus einer falschen Rolle ausgetreten, und das
ist schon etwas, gewiß, aber es führt sie noch nicht ins Leben
zurück ...
Daß die Selbstannahme
mit dem Alter von selber komme ist nicht wahr.
Dem Älteren erscheinen die früheren Ziele zwar fragwürdiger,
das Lächeln über unseren jugendlichen Ehrgeiz wird leichter, billiger,
schmerzloser; doch ist damit noch keinerlei Selbstannahme geleistet. In gewisser
Hinsicht wird es mit dem Alter sogar schwieriger. Immer mehr Leute, zu denen
wir mit Bewunderung emporschauen, sind jünger als wir, unsere Frist wird
kürzer und kürzer, eine Resignatuion immer leichter in Anbetracht
einer doch ehrenvollen Karriere, noch leichter für jene, die überhaupt
keine Karriere machten und sich mit der Arglist ihrer Umwelt trösten, sich
abfinden können als verkannte Genies ... Es braucht die höchste Lebenskraft,
um sich selbst anzunehmen ...
In der Forderung, man solle
seinen Nächsten lieben wie sich selbst, ist es als Selbstverständlichkeit
enthalten, daß einer sich selbst
liebe,
sich selbst annimmt, so wie er
erschaffen worden ist. Allein auch mit der Selbstannahme ist es noch nicht getan!
Solange ich die Umwelt überzeugen will, daß ich niemand anders als
ich selbst bin, habe ich notwendigerweise Angst vor Mißdeutung, bleibe
ihr Gefangener kraft dieser Angst
... Ohne die Gewißheit von einer absoluten Instanz außerhalb menschlicher
Deutung, ohne die Gewißheit, daß es eine absolute
Realität gibt, kann ich mir freilich nicht denken', sagt mein Staatsanwalt,
'daß wir je dahin gelangen können, frei
zu sein."
Max Frisch: Stiller,
Taschenbuchausgabe, Frankfurt 1972: 321-323
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