Maltes Lesebuch
MALTES LESEBUCH
Guten Tag, mein "Lese- und Notizbuch" ist umgezogen. Ich habe es in die
modische Form eines Blogs gegossen:
Bonjour, mon "cahier des lectures et des notes" à déménagé.
Je l'ai transmis dans la forme modique d'un blog:
Goeiedag, mijn "lees- en notitieboek" is verhuisd. Ik heb het in de
modische vorm van een blog gegoten:
Hello, my "readings and notes" section has moved. I have put it into
the fashionable form of a blog:
www.woydt.be/blog/
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PRIVATHOME:
LESEBUCH:
PROVINZ
Provinz
"Der Wiener
... hat den bösartigsten Witz über das Schicksal des Provinzlers erfunden:
ein aus der Metropole nach Linz verschlagener Beamter schildert ... einem Freund
die eigene Entwicklung wie folgt: 'Im ersten Jahr - da maanst du stirbst. Im
zweiten Jahr - na da wirst allmählich a bisserl deppert. Und im dritten
- im dritten, da bist eben a Linzer.'
Der Provinzler
ist eine Zwischenform ... Ihm fehlt die aus der Begrenzung erwachsende Selbstsicherheit
des Dörflers ebenso wie die aus der Unverschämtheit erwachsende des
Großstädters. ...
das erste wichtige
Phänomen [der Provinz-Existenz ist] die Verspätung der kulturellen
Signale. Sie gehen von der Großstadt aus; und kein Journal, kein Wort-
und Bilderstrom über Presse und Ätherwellen vermag dieses Schicksal
zu ändern.
Während der
Dörfler ... auf die Marotten der Großstadt pfeift und oft genug die
Gaudi erlebt, daß der Großstädter wie Antäus zur Scholle
zurückflüchtet, fühlt die Provinz den gar nicht so dunklen, aber
immer starken Drang, up-to-date zu sein; und immer wieder sieht sie dieses
Ziel entschwinden. ...
Wohlbemerkt: das
hat nichts mit Bildung zu tun
- jedenfalls nicht im akademischen Sinn. ... der Provinzler legt mehr Wert auf
Bildung als der Großstädter. ...
Dem Provinzler
fehlt das Element. ... Der Großstädter gewinnt ja seine vielberufene
Freiheit aus der Tatsache, daß er wieder
zum Jäger geworden ist;
Mensch, Mitmensch ist für ihn das Mitglied seines Clans, oder mehrere,
durch die Pluralität seiner Interessen gebildeter Clans. Mit ihnen, seinen
Clangefährten, jagt er im Dschungel aus Steinen, Asphalt, Autos und Individuen,
die er nicht kennt und die ihn nichts angehen. Der Dörfler andererseits
ist nach wie vor auf den universalen nachbarlichen
Zusammenhalt angewiesen, der zwar Feindschaften, Todfeindschaften, aber keine
rigorose Kastenbildung erlaubt.
Der Provinzler
ist nicht so frei wie der Großstädter, seine kongenialen Jagdgefährten
zu wählen - aber auch mit der universalen Nachbarschaft ist es bei ihm
vorbei. Er ist gezwungen ... die Gruppe herauszufinden, in der er funktionieren
kann. Meist wird hier freilich gar keine Wahl vollzogen, sondern die Gruppe
wählt ihn, determiniert ihn, legt in fest. ... [Hier ist] eine der tiefsten
Wurzeln provinzieller Malaise zu finden ... und aus ihr wachsen allzurasch und
allzuleicht zwei unausrottbare provinzielle Überzeugungen: erstens die
Überzeugung, daß der größte Teil der sozialen Umgebung
schicksalhaft ist ... und zweitens
das speziell provinzlerische Subjekt-Objekt-Gefühl
gegenüber dem Nächsten. ...
Die Mehrheit der
sozialen Kontakte in der Provinz ... ist aufgezwungen, vom gesellschaftlichen
Pflichtbewußtsein diktiert. Relativ wenig gefühlt wird das in der
breiten Basis der sozialen Pyramide, unter Arbeitern und kleinen Gewerbetreibenden
- aber das Problem verschärft sich, je weiter oben auf der Pyramide der
Provinzler zuhause ist. ...
Der Provinzler
lebt genau so moralisch bzw. unmoralisch
wie der Großstädter ... Die moralische Schnellstraße, die das
Auto dem Menschen eröffnet hat, kennt der Provinzler mindestens genausogut
wie der Großstädter. Nein,
die Konventionen der Provinz sind sozialer Art: sie haben dafür zu sorgen,
daß die Kontinuität der unentrinnbaren Gruppe gewahrt bleibt. Der
Großstädter, der Jäger im kleinen Clan, tut sich leicht: er
kann jede beliebige soziale Katastrophe zurücklassen und morgen
einen neuen Haufen finden - oder eine neue Einsamkeit,
je nachdem. ...
Das erklärt
die Notwendigkeit der kulturellen Signal-Verspätung. Kulturelle Signale
können erst dann aufgenommen werden, wenn sie konventionsfähig werden.
... Wer [in der Provinz] wirklich unkonventionell sein will (und es auch fertigbringt),
der wird notwendig zum Einsiedler ... [Man] findet ... überall in der Provinz
diese Eremiten. Sie sind kulturell unfruchtbar. ...[Meist] sind sie Käuze,
Erfinder von längst Erfundenem, Denker
von längst Gedachtem, Querköpfe, Querflieger und Querschießer.
...
Nun hat natürlich
dieser Zustand der Konvention seine positive Seite: ... Der Provinzler ist,
aufs Ganze gesehen, politisch und sozial leistungsfähiger als der Großstädter.
... Auch wo die Interessen regieren (und wo regieren die nicht?), sind sie nirgends
anonym, sondern leicht mit Personen zu identifizieren. ... Auf diesem Feld trainiert
die Provinz eine große Schar von Politikern
und entsendet sie auf weitere Felder der Aktion."
Carl Amery: Der
Provinzler und sein Schicksal. In: ders. (Hg.): Die Provinz. Kritik einer Lebensform.
München: Nymphenburger 1964, S.5-12.
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