Maltes Lesebuch
MALTES LESEBUCH
Guten Tag, mein "Lese- und Notizbuch" ist umgezogen. Ich habe es in die
modische Form eines Blogs gegossen:
Bonjour, mon "cahier des lectures et des notes" à déménagé.
Je l'ai transmis dans la forme modique d'un blog:
Goeiedag, mijn "lees- en notitieboek" is verhuisd. Ik heb het in de
modische vorm van een blog gegoten:
Hello, my "readings and notes" section has moved. I have put it into
the fashionable form of a blog:
www.woydt.be/blog/
|
.
|
PRIVATHOME:
LESEBUCH:
PROFESSORENDEUTSCH
Professorendeutsch
"'Aber mit
dem Verstehen', klagte Dirk, 'da hapert es doch immer sehr. Entweder ich höre
so einen Bauern - da verstehe ich kein Wort.
Oder ich lese, was ein sehr gebildeter
Mann geschrieben hat - da verstehe
ich jedes Wort, aber keinen Satz. Warum seid ihr Deutschen bloß so schwer
zu verstehen?' ...
Machen wir die
Probe, nehmen wir ein paar Beispiele, ein paar ... ganz alltägliche Beispiele,
aus Briefen, Zeitungen, Reden, Büchern
abgeschrieben.
Ein deutscher
Professor: 'Die lebenschaffende
Sprache
ist kein Monolog. Sie ist auch nicht das Unisono gleichgeschalteter Massen. Sie ist eine Sprache der Verständigung im höchsten und eigentlichen Sinne des Wortes, Zwiesprache, die nur dadurch möglich ist, daß jeder seinen eigenen Sprachton finden soll, wie
er auch nur in seiner eigenen Sprachebene angesprochen werden kann.' ...
[ein] Doktor
phil et med.: 'Der Gefahr der Vermassung durch den
Verstädterungsprozeß
mit allen seinen Gefahren vegetativer und emotionaler Fehlsteuerung und Fehlprägung
kann außer durch sinnvolle Steuerung der apersonalen psychosomatischen
Einflüsse selbst nur durch Persönlichkeitsbildung und Ermöglichung
der
'Bildung'
von Gemeinschaften jeder nur möglichen Art begegnet werden,
da von seiten der ärztlichen Anthropologie als auf das bedrohlichste
Zeichen einer Entartung des Verstädterungsprozesses hingewiesen werden
muß auf die tödlich gefährliche menschliche
Vereinsamung
des einzelnen gerade und besonders in unserem Zeitalter organisierter Massen.'
...
... dieser Stil übt
eine ungeheuerliche Anziehungskraft auf uns aus, und, was offenbar gar nicht
allgemein bekannt ist: man kann, wen man erst einmal ein bißchen geübt
hat, stundenlang so schreiben, ohne jede andere als die rein physische Anstrengung.
Das Schlimmste ist nicht,
daß wir Deutschen tatsächlich so reden oder schreiben - es sind vielleicht
gar nicht so viele von uns, die das
tun.
Schlimmer ist, daß diese Art von Schreiben bei uns, und daran ist gar nicht zu rütteln, hochangesehen
ist. ... Diese Art, aus Vorsicht Sprache zu kastrieren, den Sinn hinter Qualm
verschwinden zu lassen, gibt es nicht nur in Deutschland. ... In Deutschland
gab es [aber] immer besonders viele Ämter und Kanzleien. Vor allem aber
kam dem Amtsdeutsch von einer ganz anderen Seite her das Professorendeutsch
weit entgegen. Auch seine Mutter ist die Vorsicht - in einem Lande wie Deutschland
war Vorsicht allzu häufig geboten.
Da will beispielsweise jemand
sagen: 'Wer in der Großstadt lebt, muß damit rechnen, daß
er seinen persönlichen Charakter verliert, daß er krank oder verrückt
wird.' Schriebe er das, dann hätte er ... zwanzig Millionen Großstädter
auf dem Hals, die sich alle einbilden, danke, noch ganz normal zu sein. ...
[Aber] nicht den Groll derer, die sich getroffen fühlen fürchtet er,
[unser doppelter Doktor], sondern den Schaden, den sein Ruf erleiden könnte,
wenn sich seine bedeutenden Aussagen als 'einer wissenschaftlichen
Nachprüfung nicht standhaltend' erweisen sollten.
Die Kunst,
geisteswissenschaftlich unwiderlegbar zu werden, besteht darin, so lange zu
abstrahieren, bis der endlich gefundene Begriff alle konkreten Angriffsflächen
verloren hat - damit freilich auch alle Farbe, alle Kraft, jeden praktischen
Sinn. ...
Im Amtsdeutsch will's der
Schreiber nicht gewesen sein, im akademischen Deutsch will er sich keine Blöße
geben. ...
Diese Sprache kennt keine
Tätigkeitswörter und bevorzugt, wo sie der Verben nicht ganz entraten
kann, blasse, bedeutungsleere Hilfszeitwörter. ... Diese Sprache legt das
wenige, was sie auszusagen hat, in die Substantive, wobei die abstrakte Form
des Substantivs bevorzugt wird; sehr beliebt sind gelehrte Fremdwörter
oder deutsche Abstrakta, die auf -ung enden, ... Ung-geheuer ...
[Schwer zu verstehen] ist
heute Friedrich von Logaus feinziselierte Sinngedicht-Behauptung:
'Kann die deutsche
Sprache schnauben, schnarren, poltern, donnern, krachen,
kann sie doch auch spielen, scherzen,
lieben,
kosen, tändeln, lachen.'
Kann sie das noch? ..."
Rudolf
Walter Leonhardt: X-mal Deutschland. Hamburg u.a.: Deutscher Bücherbund,
Revidierte und erweiterte Neuausgabe 1971, S.296-302
|